Seit weit über 20 Jahren leide ich unter Migräne. Mal häufiger, mal seltener. In den letzten Jahren aber wurden die Migräne-Anfälle insgesamt häufiger, manchmal hatte ich wochenlang alle zwei bis vier Tage einen Anfall. Anfall heißt: In den sehr frühen Morgenstunden im Halbschlaf registrieren, dass die rechte Schädelhälfte von einem bohrenden Schmerz befallen ist. Manchmal ist der Schmerz begleitet von Übelkeit, manchmal eher von Heißhunger, manchmal beides. Bewegung lässt den Schmerz pochen, frische Luft hält ihn etwas im Zaum. Denken, das mir ansonsten eine befreiende Lieblingsbeschäftigung ist, wird zum düsteren Kraftsport, Reden gleicht dem Stemmen schwerer Gewichte. Zuhören und Aufmerksamkeit sind Schwerstarbeit.

Der Horizont schrumpft und jede Form der Aktivität ist Anstrengung. Und immer wieder der Schmerz.

Ich habe viel versucht

Ich habe viel versucht. Ich habe schon vor vielen Jahren aufgehört zu rauchen, ich habe zeitweise den Käse weggelassen, Migränesuppe gekocht, auf regelmäßige Mahlzeiten geachtet, mich ausgewogen ernährt, ich habe über lange Phasen hinweg keinen Alkohol getrunken. Ich habe mich viel bewegt, geschwommen, bin gewandert, Yoga, Qigong und Taiji praktiziert.

Die Migräne hat all das überhaupt nicht interessiert. Ob Urlaub oder Alltag, Stress oder tolles Projekt, die Migräne blieb, mal häufiger, mal seltener. Muster habe ich nicht erkannt. Natürlich gibt es Trigger – schwere Gepäckstücke, die an den Schultern zerren, samt Reisestress, zu viel Alkohol, zu wenig Schlaf, stickige Kneipen mit hohem Lärmpegel, lange Stressphasen und vor allem das Ende einer Stressphase. Migräne-Menschen kennen das, geht der Stress, kommt die Migräne.

Ratschläge, Apps und Hitzewellen

Ich habe mir die gut gemeinten Ratschläge von Freundinnen und Bekannten angehört, was ich machen und lassen sollte und könnte. Zeitweise waren Migräne-Kalender und Migräne-Apps meine täglichen Begleiter, ich habe Listen über Mahlzeiten und Schlafzeiten, Getränke und Stresslevel geführt.

Und vor allem habe ich mich über die verlorenen Tage, die verpuffte Energie, die schmerz-verordnete Passivität, die vielen losen Enden in meinem Tun und Leben geärgert.

Ich habe auf die allerorts versprochene Linderung durch die Wechseljahre gewartet. Der Wechsel kam, die Migräne blieb. Und änderte den Rhythmus vom verlässlichen Zwei-Wochen-Takt auf völlige Unberechenbarkeit. Die Hitzewellen kamen und gingen, die Migräne blieb.

Ich bin keine Heldin

Ich habe viel Geld für Akupunktur-Behandlungen ausgegeben. Der Effekt war überschaubar, die Migräne wanderte zeitweilig von der rechten zur linken Schädelseite. Die Hoffnung, dass weitere Behandlungen sie dann ins Abseits drängen würden, hat sich nicht erfüllt. Vielleicht hätte ich länger durchhalten sollen, aber ich konnte mir das irgendwann nicht mehr leisten. Ich habe gezielte Kombinationen von Qigong-Übungen entwickelt. In einem von ungefähr acht Fällen war ich damit erfolgreich. Ich habe Atemübungen gemacht – früh genug und mitten in der Nacht praktiziert, wenn die Migräne in Kinderschuhen aufsteigt, relativ erfolgreich. Auch Atemübungen vorm Einschlafen zeigten gewisse Erfolge.

Fies nur, dass jeder Erfolg dann nach ein paar Wochen durch höllenartige Super-Anfälle zerfetzt wurde. In tödlichem Takt, alle zwei oder drei Tage. Heldinnen hätten sich davon nicht beeindrucken lassen und weiter praktiziert. Ich schon. Meine Motivation war damit auf dem Tiefpunkt und ich habe viele erfolgversprechende Ansätze nicht wirklich oder nicht regelmäßig genug weiter verfolgt. Migräne ist ein gnadenloser Motivationskiller.

Warum ich das alles schreibe?

Weil meine Migräne seit einem halben Jahr auf dem Rückzug ist. Erst unauffällig sank die Frequenz. Ach, wie schön, eine gute Woche ohne Migräne! Ach, jetzt hab ich gestern ein Glas zu viel getrunken und heute keine Migräne? Erstaunlich. Eine Zugreise mit fünf Umstiegen und vier Gepäckstücken und einem zerrenden Hund – keine Migräne am nächsten Tag. Ein Abend mit zwei Zigaretten, ach, Rauchen kann so schön verbinden! – die Migräne blieb weg. Dann hin und wieder, alle 10 Tage, alle zwei Wochen? – ich habe aufgehört zu zählen – eine Attacke. Die sich verschmerzen lässt.

An manchen Tagen steigt die Migräne auf und sitzt dumpf hinter der Schläfe, als würde sie auf den Strom warten, mit dem sie zum bohrenden Schmerz unter der Schädeldecke wird. Ich trinke dann einen Trippel-Espresso ohne Zucker im Bett. Zum Schütteln bitter. In drei von vier Fällen reicht das aus, die Migräne verzieht sich.

Was hat genützt?

Nein, ich kann die Veränderung nicht erklären. Aber ich genieße sie, genieße den Energie-Gewinn, die Befreiung im Kopf, die Leichtigkeit der Gedanken, die vielen Tage ohne das Blei, das sich auf jede Bewegung legt, ohne Düster-Dimmer im Kopf.

Und ja, seit 25 Jahren praktiziere ich Taiji, seit über 10 Jahren Qigong, seit fünf Jahren Yoga, ich meditiere, übe Achtsamkeit. Und all das hat meine Migräne nur unwesentlich eingedämmt. Statt dessen verschwindet sie durch Zauberhand. Vielleicht steckt eine Hormonumstellung dahinter oder ein anderes Altersphänomen. Also alles umsonst.

Ich bin eine Heldin

Nein, Qigong, Taiji, das Atmen, das Yoga waren nicht umsonst. Heute weiß ich, dass ich eben doch eine Heldin bin. Ich habe 25 Jahre mit regelmäßiger und davor sporadischer Migräne gelebt. Ich habe meinen Job als die webagentin erfolgreich gemacht, habe Weiterbildungen konzipiert und umgesetzt. Meine Didaktik ist auch bei technischen Themen geprägt von Empathie, Hilfe zur Selbsthilfe, Motivation und Empowerment und offen für kritische Fragen und Reflexionen. Ohne Migräne wäre sie wahrscheinlich eine andere, nicht schlechter wohl, aber anders. Die Mischung aus Geduld und fachlich hohem Anspruch, Nachsicht und Disziplin ist sicherlich auch Migräne-generiert.

Ich habe in all dieser Zeit Taiji und Qigong praktiziert und habe Ausbildungen zur Lehrerin für Qigong, für Taiji und Neigong (Meditation) gemacht. Ich hatte Übungslöcher, Phasen, in denen ich nicht praktiziert habe. Aber ich habe immer wieder angefangen. Weiter gemacht.

Kommen und Gehen

Ich habe mit Qigong die Gelassenheit gelernt, die es braucht um mit Migräne zu leben. Habe im Qigong gelernt meinen Ehrgeiz loszulassen, weil Ehrgeiz im Qigong nicht weiterhilft. So konnte ich ertragen, dass ich beruflich noch erfolgreicher hätte sein können. Ich habe gelernt, Selbst-Kultivierung statt Selbst-Optimierung anzustreben. Scheitern ist ein Teil des Lebens, ebenso wie Erfolg.

Qigong, Taiji und andere Wege der Selbstkultivierung heilen nicht jede Krankheit. Aber sie sind nicht wirkungslos. Mir haben sie geholfen die Jahre mit heftiger Migräne zu bewältigen. Ich habe so eine Haltung gefunden, mit der ich mit Migräne, mit dem Kommen und Gehen des Schmerzes leben kann. Wenn er jetzt länger geht, ist das ganz wunderbar.

Und ich habe zutiefst verstanden, dass Gesundheit ein Geschenk ist.

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